Schule neu denken: Von der Defizitorientierung zur Stärkenförderung

Schule neu denken: Von der Defizitorientierung zur Stärkenförderung

Stell dir vor, Schule wäre eine Zeit gewesen, die du nicht einfach nur durchstehen musstest, sondern die du als bedeutende Erfahrung für dein Leben mitgenommen hättest. Eine Zeit, in der du nicht ständig gehört hättest, was du alles nicht kannst, sondern in der du erkannt hättest, was dich einzigartig macht. Doch aktuell ist Schule oft das Gegenteil: eine diktatorische Situation, in der eine Person vorgibt, was zu tun ist, während Lernende versuchen, Erwartungen zu erfüllen, die sie kaum interessieren. Selbst der Zugang zu Wissen, für den Schule einst unersetzlich war, ist längst überholt – viele Themen werden auf YouTube besser erklärt. Ist diese Form der Schule heute überhaupt noch notwendig? Oder wäre es nicht an der Zeit, Schule komplett neu zu denken und nicht nur zu reformieren?

Das Problem der Defizitorientierung

Wie sieht Schule heute aus? Das Hauptziel scheint darin zu liegen, Lernende zu bewerten, indem sie anhand eines vorgegebenen Standards eingemessen werden: Eine „1“ steht für das Optimum, jede andere Note misst nur den Abstand davon. Dieses System basiert auf der simplen Logik, dass Menschen sich nur in Richtung „unterhalb des Standards“ unterscheiden – und es versäumt, den Menschen in seiner Einzigartigkeit zu sehen.

Doch es geht nicht nur um Noten. Die Themen, die in der Schule behandelt werden, sind vorgegeben. Von Lernenden wird erwartet, sich für diese Themen zu interessieren – unabhängig davon, ob sie zu ihren Stärken oder Interessen passen. Vielmehr geht es darum, herauszufinden, was die Lehrperson von einem erwartet, und diese Erwartungen zu erfüllen. Wer dies in vielen Fächern gleichzeitig erfolgreich schafft, gilt als „guter Schüler“ oder „gute Schülerin“. Es ist kein Raum, wirklich zu lernen, was man liebt.

Für die meisten bleibt es ein Zufall, ob eines der vorgegebenen Themen tatsächlich das eigene Interesse weckt und über die Schulzeit hinaus prägend wird. Und falls man das Glück hat, sich für ein Thema zu begeistern, darf man sich damit oft nur in den vorgegebenen Grenzen beschäftigen – und nur mit der Geschwindigkeit, die der Lehrplan vorgibt.

Schule ist dadurch wie ein zehn Jahre andauerndes Menü-Tasting: Lernende probieren ein Gericht nach dem anderen – zu festen Zeiten, unabhängig davon, ob sie überhaupt Hunger haben. Vielleicht schmeckt eines der Gerichte, aber die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass man sich mit den meisten Speisen nur aus Pflichtgefühl auseinandersetzt. Gulasch zum Frühstück? Kein Problem, wenn es im Lehrplan steht.

Das Problem der Systemerhaltung

Eine echte Veränderung des Schulsystems würde erfordern, Schule komplett neu zu denken. Doch hier liegt ein weiteres Hindernis: Viele Menschen, die heute in Positionen sind, um Veränderungen voranzutreiben, fanden das Grundprinzip der Schule offenbar gut – sonst wären sie wahrscheinlich nicht Lehrkräfte oder Entscheidungsträger*innen geworden. Und diejenigen, die es kritisch sehen, sagen oft: „Mir hat es ja auch nicht geschadet!“ Doch das stimmt nicht. Dieses System hat uns allen geschadet, weil es uns davon abhält, unser volles Potenzial zu entfalten und uns auf unsere Stärken zu konzentrieren. Es hat uns beigebracht, dass Lernen schwer ist und uns unsere intrinische Motivation dafür genommen.

Dabei lernen wir in der Schule nicht einmal den Zugang zu Themen, die uns begeistern könnten, sondern lediglich, wie man Erwartungen erfüllt. Die Schule in ihrer aktuellen Form vermittelt oft nicht Wissen, sondern trainiert Konformität. Dabei wäre das Lernen wäre so viel effektiver und nachhaltiger, wenn die Inhalte auf das abgestimmt sind, was die Lernenden wirklich interessiert und motiviert.

Die Alternative: Stärkenorientierung statt Defizitdenken

Es muss anders gehen. Schule sollte in erster Linie ein Ort sein, an dem Lernende herausfinden, was sie gut können. Was sind ihre Stärken? Wo liegen ihre Interessen? Eine Stärkenorientierung leistet einen entscheidenden Beitrag dazu, dass Menschen nicht nur eine erfüllte Schulzeit erleben, sondern auch einen Kompass für die kommenden 70 Jahre ihres Lebens entwickeln.

Die Fähigkeit, Erwartungen von Lehrpersonen zu erfüllen, mag für gute Noten nützlich sein. Doch für ein erfülltes Leben ist sie nicht hilfreich. Viel wichtiger wäre es, jungen Menschen die Möglichkeit zu geben, ihre eigenen Interessen zu entdecken und diese so lange zu verfolgen, bis sie sicher wissen: Das ist es, was ich wirklich will.

Der schöne Nebeneffekt der Stärkenorientierung: Das, was man gut kann, ist häufig auch das, was man gerne macht. Und das wiederum hängt oft mit dem zusammen, was einen an der Welt fasziniert. Schule könnte ein Ort sein, der genau diesen Zusammenhang erkennt und fördert. Doch das Gegenteil ist derzeit der Fall: Schule ist der Ort, an dem durch 45-minütige, vorgegebene Einheiten das eigene Interesse systematisch unterdrückt wird.

Warum machen wir es nicht einfacher?

Dabei wäre es gar nicht schwer, Lernenden eine stärkere Rückmeldung zu geben, was sie besonders gut können. In jeder Klasse wissen Mitschüler*innen oft sehr genau, worin andere gut sind. Paradoxerweise erfahren wir diese Informationen über uns selbst selten. Es braucht glückliche Umstände – oder mutige Menschen –, damit uns jemand sagt, warum wir etwas Besonderes sind und wir das auch glauben. Und genau das fehlt in unserem Bildungssystem.

Das heutige Schulsystem ist nicht darauf ausgelegt, uns diese Erkenntnisse mitzugeben. Stattdessen erfahren wir, was wir nicht gut genug machen – gemessen an einem Standard, der wenig mit unserem Leben zu tun hat. Diese Art von Information führt auch zu einem verzerrten Selbstbild. Manche sind sogar stolz auf ihre „schlechten“ Noten in bestimmten Fächern, als sei das ein Teil ihrer Identität. Aber wie hilft uns das, ein erfolgreiches Leben zu führen?

Ein wertvolles Erlebnis schaffen

Es braucht keine Digitalisierung oder teure Ausstattung oder weniger Frontalunterricht, um Schule zu einem wertvollen Erlebnis zu machen. Was es braucht, ist die Möglichkeit, herauszufinden, was man kann, was einen interessiert – und diesen Interessen folgen zu dürfen. Das würde nicht nur die Schulzeit zu einer bereichernden Zeit machen, sondern auch zufriedene, engagierte Menschen für unsere Gesellschaft hervorbringen.

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